Einzinger Auswanderer
von Rudi Stöckel
Die Auswanderungswellen des 19. und 20.
Jahrhunderts erfassten auch einige Einzinger.
Sie verteilen sich auf vier Generationen und begann
im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, setzte sich im
1. Drittel des 20. Jahrhunderts mit der Hauptwelle in
den 20er Jahren fort. In diesen Zeiträumen vollzog
sich die klassische Auswanderung nach Übersee in der
Hauptsache Amerika. Geschaffene
Auswanderungsbehörden halfen bei den Formalitäten
und lenkten alles in geordnete Bahnen.
Die Gründe, die zur Auswanderung bewegten, waren
die damaligen schlechten Zeiten in Deutschland, Not
und Arbeitslosigkeit, oder auch Abenteuer und Lust
Neues zu erleben.
Die dritte Auswanderungswelle vollzieht sich im 2.
Drittel des 20. Jahrhunderts in dem begrenzten
Zeitraum 1946 – 1961. Hier waren die Gründe aber
ganz andere. So wurde dieses Verlassen als Flucht
bezeichnet. Angangs noch legal, später illegal und
verboten.
Flucht vor einem politischen System, dem
Sozialismus, der nach dem verlorenen Krieg und der
festgelegten Teilung Deutschlands sich im Osten der
sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR
entwickelte.
Die vierte und zur Zeit noch anhaltende Bewegung,
begann nach der politischen Wende 1990. Wiederum
sind es fehlende Arbeitsplätze und
Entwicklungsmöglichkeiten, die Veranlassung sind, in
den alten Bundesländern, früher Westdeutschland,
Arbeit und Wohnsitz zu suchen oder auch nur einen
Arbeitsplatz zu finden und in Einzingen wohnen zu
bleiben.
Die ersten Auswanderer waren 2 Söhne von Gottfried
Heinrich Peinhardt, der am 11. 04. 1812 in Einzingen
geboren wurde und eine große Familie hatte. Seine
Nachkommen verkauften zum Teil ihr Erbe. Sie
wohnten in dem Haus Nr. 43. Karl Peinhardt und sein
Bruder Otto sind 1880 nach Amerika ausgewandert.
Nur von Karl Peinhardt weiß man, daß noch
Nachkommen in Amerika leben.
1923/24 wanderte Moritz Breitenbach aus. Er wohnte
auf der Kapelle. Er verkaufte sein Haus an den Vater
von Paul und Richard Semmler und seinen Ackerbesitz
an Karl Friedrich. Da in Deutschland Inflation war, soll
der erzielte Erlös gerade für die Überfahrt nach
Brasilien gereicht haben.
Mir wurde erzählt: Es sei schon ein Jugendtraum von
ihm gewesen, einmal auszuwandern. Es soll beim
Verlassen seiner Wohnung das Lied „Ade, du mein lieb
Heimatland“ gesungen haben. Die ihm zuwinkenden
Nachbarn sollen ebenfalls mit gesungen haben. Über
sein Ergehen in der „anderen Welt“ ist nichts bekannt
geworden.
1922 – 1927 wanderten 4 Geschwister von Karl
Eichentopf, Haus Nr. 13, Otto, Richard, Wilhelm und
Marie Eichentopf nach Amerika aus. Von Marie
Eichentopf weiß man durch eine Meldekarte der
Behörde, daß sie am 02. 09. 1922 im Alter von 32
Jahren mit dem Überseedampfer Mount Carvoll
Deutschland verlassen hat. Über ihren Verbleib ist
den Verwandten nichts bekannt. Während die Brüder
Otto und Richard nach dem Krieg Deutschland
mehrmals besucht haben, sind von Wilhelm
Eichentopf alle Spuren verloren.
1928 hat ein Sohn von Rudolf Hoffmann aus Einzingen,
Haus Nr. 58, der schon vordem nach Leipzig verzogen
war, Robert Hoffmann, sich in Amerika eine neue
Heimat und Existenz gesucht.
Zwei Söhne von Theobold Peinhardt aus Einzingen,
Haus Nr. 12 und Brüder von Willy Peinhardt, Alfred
und Hilmar Peinhardt sind 1928 auch nach Amerika
ausgewandert. Beide hatten ein Holzhandwerk erlernt
und fanden in Amerika schnell Arbeit. Sie hatten den
Vorteil, daß ihr schon 1880 ausgewanderter Onkel für
sie die Bürgschaft übernahm. Diese beiden Peinhardts
haben die Verbindung zu Deutschland nicht abbrechen
lassen. Es gab Besuche nach Amerika von Willy
Peinhardt und Frau schon zu DDR Zeiten und von
Tochter Gisela mit Familie nach der Wende. Hilmar
und Alfred haben selbst mehrmals ihre Heimat
Einzingen besucht. Nach der Wende haben mehrfach
Nachkommen von den Peinhardt, von denen es etwa
150 in Amerika gibt, Deutschland besucht und sich für
Einzingen, den Ort ihrer Vorfahren interessiert.
So kann man bisher 10 Einzinger für diese zwei
Zeiträume als Auswanderer einordnen.
Der dritte Zeitraum ist von unangenehmeren
Umständen begleitet. Nicht nur, daß im Krieg und
Nachkriegswirren viele Evakuierte und vertriebene
Umsiedler nach Einzingen kamen, begann dann etwa
ab 1947 die Zeit, zu der vor allem Jugendliche
Einzingen verlassen und sich über die durch
Deutschland gezogene „Grüne Grenze“ sich nach
Westdeutschland abgesetzt haben. Sie wurden von
den offiziellen Stellen als Republikflüchtlinge
bezeichnet.
Bekannt sind mir:
Eva Vocke, Ilse Schönhoff, Margot Deckert, Otto
Große, Paul Brettschneider, Rosalinde Jödicke sowie 2
Brüder und eine Schwester von Karl Heinz Behm.
Diese jungen Leute gründeten meist im Westen
eigene Familien. Aber auch verheiratete und ältere
Einzinger haben ihre Heimat verlassen und die Flucht
in den „Goldenen Westen“ gewagt.
Sowie Frau Grunewald, die mit drei Kindern als
Umsiedler nach Einzingen kam. Sie war Kriegswitwe,
hatte später im Westen einen Witwer geheiratet. Ihre
3 Töchter haben sich hier verheiratet.
Die Kriegsevakuierten kehrten alle wieder in ihre
Heimatstädte zurück. Es waren meist Berliner oder
Kölner. Von den Umsiedlern sind einige in Einzingen
seßhaft geworden, so die Familien Brettschneider,
Lemke, Schönhof, Bandowski, Walther, Ittrich u. a..
Ende der 50er Jahre verließen Leute, die mit
Wirtschaft bzw. Landwirtschaft zu tun hatten, illegal
das Land. Es gab bis zum Bau der Mauer 1961 die
Möglichkeit, über Ostberlin nach Westberlin zu
gelangen. In Einzingen waren es Leute der
Landwirtschaft, welche die Willküraktionen mit
Sollerfüllung und Pflichtablieferung nicht mehr über
sich ergehen lassen wollten.
Marie Eckstein betrieb eine Bauernwirtschaft mit über
30 ha. Sie flüchtete nach Westberlin und dieser
Landwirtschaftsbetrieb wurde danach weiter als
staatlicher, örtlicher Landwirtschaftsbetrieb
verwaltet. Ihr Sohn Heinz war zurückgeblieben und
hat als Geschirrführer in diesem Betrieb
weitergearbeitet. Marie Eckstein ist nach Jahren in
die DDR zurückgekehrt und hat ihr Eigentum
zurückerhalten bzw. für ihre Ländereien vom Staat
Pacht erhalten. Sie lebt heute noch bei ihrer Tochter
in Winkel – sie wird in diesem Jahr 100 jahre alt.
Kurz vor der Gründung der LPG in Einzingen verließ
auch der hier tätige Schäfer Karl Fritzsche seinen
Arbeitsplatz und hat im Westen eine neue Existenz
gefunden.
Anfang 1956 ging Fritz Karrer, Haus Nr. 30, mit seiner
Familie von Einzingen weg. Er hatte als Landwirt
Schwierigkeiten mit seinem Ablieferungssoll und
zugleich Angst, daß man ihn einsteckte. Er war von
Beruf Schäfer, und die neu gegründete LPG hat
versucht, ihn zur Rückkehr zu bewegen, um ihn als
Schäfer einzustellen, dies gelang natürlich nicht.
Pfingsten 1959 ist Helga Oßke, verheiratete
Kühnemund in Pölsfeld mit ihrer Familie über
Westberlin weggegangen. Sie betrieben in Pölsfeld
eine Landwirtschaft und gehörten somit der Gruppe
„Großbauern“ an.
Ein Jahr später Pfingsten 1960 ist Richard Oßke mit
seiner Familie über Berlin – kurz vor dem Mauerbau –
noch die Flucht in den Westen gelungen. Es war zu
dieser Zeit mit seinem Großbauernbetrieb schon 1958
in die LPG eingetreten. Man kannte ihn als guten
Landwirt und er wurde als Feldbaubrigadier
eingesetzt. Er hatte seine Flucht gut vorbereitet, das
Meiste in Sicherheit gebracht, ohne das jemand etwas
bemerkt hat. Am Pfingstdienstag, als er nicht mehr im
Büro erschien, fand man nur einen Zettel auf seinem
Schreibtisch vor, auf dem die Arbeitseinteilung für
den Tag genau für jeden geschrieben war, da war er
bereits in Westberlin. Solche Tage waren immer sehr
aufregend.
Die Staatssicherheit begann zu forschen, wer wohl
darüber etwas gewußt habe. Das neue Auto von
Richard Oßke hat mit Kaufvertrag auf dem Parkplatz
in Potsdam seinen Besitzer gewechselt. Ansonsten
wurde ja zu dieser Zeit alles zurückgelassene
Eigentum zum „Volkseigentum“ erklärt.
Nach der von den meisten nicht erwarteten
politischen Wende und der Einheit Deutschlands
erhielten viele, auf Antrag, ihr zurückgelassenes
Eigentum zurück.
Die erwähnte vierte Etappe ist noch nicht
abgeschlossen, aber jeder erlebt sie jetzt selbst mit.
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